Warum ich so wütend bin

Für den folgenden Text bedanken wir uns bei Tatjana. Auf unserer Kundgebung im Juli 2020 hatten wir sie eingeladen, über ihre Arbeit in einem privaten Pflegeheim zu berichten.

Es klingelt. Eigentlich ununterbrochen. Das Abendessen im kleinen Speisesaal ist gerade beendet, und hinter mir liegen bereits knappe zwei Stunden Tische eindecken, Essen vorbereiten, Bewohner zu Tisch holen, Essen austeilen, Essen eingeben. „Schwester, wo ist mein Essen?“ „Schwester, kann ich noch Zucker für meinen Tee haben?“ „Schwester, was ist mit meinen Tabletten?“ „Schwester, ich brauche noch Wasser.“ „Schwester, ich will nach Hause“ „Schwester, ich wollte aber Naturjoghurt, kein Fruchtjoghurt“, „Schwester, ich werde doch noch gespritzt“ „Schwester, wir haben doch immer Fencheltee, das ist Kamillentee“ „Schwester, kann ich bitte das Salz haben?“ „Schwester, einen kleinen Löffel noch, bitte“.

Mit der einen Hand fische ich den vorletzten kleinen Löffel aus der Besteckschublade, während ich mit der anderen Salz und Zucker, Fencheltee und Naturjoghurt auf dem Medikamentenwagen platziere, um sie zusammen mit Medikamenten und dem Insulin zu den richtigen Bewohnern zu bringen. Während ich beginne Wasser in Gläser zu gießen, Medikamente zu verteilen und vom Actrapid-Schema abzulesen, wie viel Insulin gespritzt werden muss, ertönt vom Gang ein schepperndes Geräusch. Ich schrecke hoch und sprinte in Richtung des Lärms, stocke kurz, bin hin-und hergerissen, eigentlich darf der Wagen mit den Medikamenten nicht unbeaufsichtigt sein, aber das Geräusch hört sich nach Sturz an. So ziehe ich den Wagen einige Schritte weit aus dem direkten Zugriff der nächsten Bewohner, dann renne ich dem Geräusch entgegen. Die Bewohnerin auf dem Platz direkt an der Tür ruft mir hinterher: „Schwester, ich muss aufs Klo“. „Gleich.“ rufe ich ihr über die Schulter zu, und fühle mich furchtbar dabei, ihr nicht sofort helfen zu können. Aber die Versorgung des Mannes, der vor dem Speisesaal gestürzt ist, verlangt wenigstens für einige Minuten meine volle Aufmerksamkeit. Es ist dieses Gefühl, das ich so hasse, und das mich so wütend macht. Das Gefühl, Menschen, deren Lebensfreude oftmals ohnehin überschaubar ist, bei ihren grundlegenden, elementaren Rechten wie Toilettengängen und Medikamenten oder einfachen Bedürfnissen wie Salz zu den Tomaten beim Abendbrot, vertrösten zu müssen. Nicht, weil ich das will, oder weil ich ein schlechter Mensch bin, sondern weil die Umstände mich dazu zwingen. Es sind Menschen, die diese Heimumgebung ihr neues Zuhause nennen, die wissen, dass sie hier sterben werden und für die entweder sie selbst, ihre Angehörigen, die Gesellschaft oder alle zusammen viel Geld für eine menschenwürdige Versorgung bezahlen. Ich weiß, dass ich es nicht bin, bei der all das Geld landet, denn ich verdiene 58 Cent über dem vereinbarten Mindestlohn.

Nach wie vor klingelt es ununterbrochen. Ein Pflegeheim ist ein raues Pflaster und die Bewohner, die noch klar genug für diese Erkenntnis sind, wissen, dass sie sich Gehör verschaffen müssen, wenn sie versorgt werden wollen. Das ist aus ihrer Sicht verständlich, für mich ist es der pure Stress. Ich hetze von einer Klingel zur anderen, von einem Bedürfnis zum anderen, stoße ständig an meine Grenzen und höre die Aussagen der Geschäftsleitung in meinem Ohr: „Sie müssen sich besser strukturieren, alles eine Frage der Organisation. Oder sind sie etwa den an Sie gestellten Anforderungen nicht gewachsen?“ Die ersten Bewohner sind bereits zu Bett gebracht. Während ich die Nächste zur Toilette geleite, während ich im Zimmer nebenan Zähne entnehme und putze, ein Zimmer weiter das Nachthemd zurecht lege und im vierten Zimmer die Anti-Thrombose Strümpfe ausziehe, ist die Bewohnerin im ersten Zimmer wieder soweit, dass ich sie nach dem Toilettengang grundpflegerisch versorgen kann. Ich bin froh über diesen tendenziell euphemistischen Terminus, denn der Begriff „Arsch abwischen“ richtet sich gegen die Würde der Bewohnerin und gegen meine eigene. Und doch ist selbst der Beste Ausdruck oftmals ehrlicher als das Gebaren der Geschäftsleitung, die sich strikt und qua Definition weigert offenkundige Mängel als strukturell anzuerkennen. Alles unsere Schuld. Wir sind zu faul, zu unstrukturiert, zu unmotiviert, und unqualifiziert.

Die Notrufglocke klingelt in einer unbarmherzigen Monotonie. Es ist nicht der Ton, der so an den Nerven zerrt, der mich zermürbt und wütend macht, sondern der dahinter stehende Umstand, dass so viele Menschen gleichzeitig meine Hilfe wollen und ich einfach nicht an zwei, oder drei oder fünf Orten gleichzeitig sein kann. Ich hetze in das nächste Bewohnerzimmer. Das Stationstelefon klingelt. Die Kollegin ein Stockwerk tiefer braucht Hilfe bei einem Bewohner mit schwerem Durchfall. Außerdem warten dort noch die Medikamente darauf, verteilt zu werden. Ich stehe neben der Bewohnerin, die sich mit ihrem Rollator in minikleinen Trippelschritten in Richtung Badezimmer bewegt. Nichts in meinem Leben kommt mir jemals so langsam vor wie eine 95.Jährige auf dem Weg ins Bad, wenn gleichzeitig fünf andere Glocken klingeln und eine Kollegin Hilfe braucht. Die Bewohnerin bleibt stehen, hat etwas entdeckt auf ihrem Nachttisch, greift danach. Ich schließe die Augen, öffne sie wieder und sage mühsam beherrscht: „Bitte, gehen Sie weiter, es warten wirklich noch viele andre Leute.“ Sie aber bleibt stehen, sagt „Schwester…“ „Nein, jetzt nicht!“ herrsche ich sie an, und als ich sehe, wie ihr daraufhin Tränen in die Augen steigen, möchte ich am liebsten mit weinen. Ich schäme mich so, dass ich trotz den vielen anderen penetrant klingelnden Wünschen nach Unterstützung, Aufmerksamkeit, Zuwendung und Hilfe einen Moment inne halte und die Bewohnerin in wesentlich ruhigerem Ton frage: „Was gibt es denn?“. Sie dreht sich zu mir um und hält mir lächelnd ein mäßig gut ausgemaltes Bild entgegen. Viele Buntstiftlinien, kreuz und quer über einem vorgedruckten Frühlingsmotiv. „Das hab ich gemalt, ganz allein.“ verkündet die Bewohnerin stolz und ich lächle tapfer, auch wenn mir nach wie vor nach Weinen zumute ist.

Es ist ein blödes Gefühl, die Station unbeaufsichtigt zu lassen, während ich auf das andere Stockwerk eile, um die Kollegin zu unterstützen und BTM-Medikamente zu verteilen. Aber es geht nicht anders, ich habe keine Wahl. Als ich zurück komme, stoße ich fast mit dem KVB-Arzt zusammen, der zwei Stunden nach meinem Anruf endlich gekommen ist und gerade aus dem Fahrstuhl steigt. Ich werfe einen zusehends müden Blick auf das Schlachtfeld, das sich unser Speisesaal nennt, in dem sich das benutzte Geschirr stapelt und noch drei Bewohnerinnen darauf warten, ins Bett gebracht zu werden. Dann gehe ich nach vorne ins Stationszimmer. In Gedanken lege ich mir bereits die Worte zurecht, mit denen ich versuche zu erklären, warum ich so dankbar bin, dass der Arzt gekommen ist, auch mitten im größten Trubel: Zu der Bewohnerin, die gestern neu eingezogen ist, für die ich ab morgen früh keine der verordneten Medikamente mehr habe, kein Verbandsmaterial für ihre Wundversorgung und deren Krankenkassenkarte leider unauffindbar ist.

Zu meiner Freude wirft er dann auch noch einen Blick auf den vor einer Stunde gestürzten Bewohner. Auf dem Weg zu diesem übergebe ich: „Keine äußeren Verletzungen erkennbar, Gelenke frei beweglich, RR 130/90 Pupillenreaktion isokor, keine Schmerzäußerung.“ „Harter Tag, was?“ fragt der Arzt und ich nicke. Ich bin dankbar für jeden Externen, der anerkennt, dass die Zustände, die sie vorfinden, wenn sie das Heim betreten, nicht unserer angeblichen Inkompetenz geschuldet sind.

Ich muss an die mitfühlend-resignierte Übergabe der Kollegin aus der Frühschicht denken: „Ihr seit heute zu fünft für vier Stockwerke. Nachher kommt hoffentlich noch jemand für ein paar Stunden, sonst wird es krass. Die PCs gehen nämlich zwischendurch immer mal wieder nicht. Hoffentlich gibt es keinen Notfall. Ach ja, und Einlagen gibt es im ganzen Haus auch keine mehr.“

Mal sind es Handschuhe, die fehlen, mal Müllsäcke, fast immer am Wochenende fehlen Inkontinenzeinlagen. Was kann einen wütender machen als die Erkenntnis, dass man der Firma, für die man arbeitet, nicht einmal ausreichend Handschuhe und Müllsäcke wert ist?

Als ich zurück in den Speisesaal komme hat die Kollegin der Betreuung bereits begonnen, die Tische abzuräumen, während der Kollege aus dem anderen Stockwerk gekommen ist, um mir mit den letzten zwei Bewohnerinnen zu helfen. Klassischerweise fällt das nicht in ihren Aufgabenbereich, klassischerweise haben beide genug und viel zu viel eigene Aufgaben zu bewältigen, aber was ist schon klassisch hier bei uns? Im Vorbeigehen lächle ich ihnen zu, und versuche all meine aufrichtig empfundene Dankbarkeit in dieses Lächeln zu legen, während ich mich anschicke die letzte Bewohnerin im Rollstuhl in ihr Zimmer zu schieben.

Kurz vor Schichtende sitze ich schließlich, todmüde und kaputt, am PC, der zum Glück gerade funktioniert, dokumentiere erbrachte Leistungen und versuche die wichtigsten Informationen der Schicht in Berichtsform zu bringen. Mein Blick fällt auf den Vordruck der Überlastungsanzeige, die ich später weiter ausfüllen werde. Nach der letzten Überlastungsanzeige wurde mir vorgehalten, ich müsse vorhandene Mehrbelastungen genauer, ausführlicher, im Detail dokumentieren, ansonsten sei meine Überlastung weder glaubwürdig noch nachvollziehbar. Man könnte meinen, die Benennung des Umstandes als Fachkraft allein verantwortlich für 21 Bewohner gewesen zu sein, plus Fachaufsicht für 12 weitere, reiche aus um eine Überlastung anzuzeigen. Welch naive Vorstellung. Ich werde erneut wütend, auch wenn dazu schon fast keine Kraft mehr vorhanden ist.

Als ich nach Schichtende kurz vor 22.00 Uhr dabei bin, unsere Umkleidekabine aufzuschließen, fällt mein Blick auf das Wahlausschreiben zur Betriebsratswahl am 31. Juli, das direkt daneben am schwarzen Brett befestigt ist. Ich muss lächeln, müde, erschöpft, ein bisschen traurig, ziemlich wütend und einigermaßen fatalistisch, aber ich lächle. Die erste Betriebsratswahl in dem Unternehmen mit 48 Pflegeheimen ist ein Versuch, etwas zu verändern. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Was wir tatsächlich verändern können, ob wir zusammen halten, uns nicht spalten lassen, ob wir die Kraft haben etwas zu verändern, das wird die Zukunft zeigen. Ich weiß nur: was auch immer passiert, es kann eigentlich nur besser werden.